Zug-Verbindungen

Veröffentlicht in: Referenzen, Unterwegs | 0

Langsamkeit und Langeweile sind ein guter Anfang, um sich mit seiner Umgebung intensiv zu beschäftigen.

Ein Zug ist voller Zufälle. Du öffnest das Abteil und es riecht nach Parfüm oder nach Wurstbrot, nach Zigaretten und Bier, nach Shampoo oder Füßen, Pommes, Obst, Hustenbonbons oder von allem ein bisschen. Es kommen hier Geschichten zusammen, die sich sonst nicht begegnet wären, Erzähler und Zuhörer – bei ihrem wahrscheinlich einzigen Treffen – ausgestattet mit Zeit, die sie sonst nicht gehabt oder sich nicht genommen hätten. 

Man sitzt, sieht hinaus und die Landschaft zieht vorbei – unterbrochen von Städten, Dörfern, Tunneln, Bahnhöfen – in einer für Gedanken gut verträglichen Geschwindigkeit. Zumindest in manchen Zügen ist das so. 

Wenig Geld und viel Zeit zu haben – ich denke hier gerne an mein Studium zurück – war eine ideale Ausgangslage, um zu reisen. Es schien, als wären die Züge in Osteuropa für mich gemacht, dabei war genau das nicht der Fall. Beharrlich, für jeden bezahlbar, mit stoischer Ruhe und ohne auf Annehmlichkeiten zu achten, brachten sie (als es noch kaum Autos gab) und bringen sie (zunehmend weniger) die Einheimischen bis in kleine, entlegene Orte. Verwandte zu Verwandten, Arbeiter zur Arbeit, Studierende in die Städte, aber auch Schmuggler über Grenzen oder Autohändler Richtung Westen. Auf die Frage, wie sie diese Art unterwegs zu sein empfinden, würden wohl alle antworten: mühsam. Und nur sehr vereinzelt würde jemand sagen: mühsam, aber auch bereichernd. 

Ich könnte von meinen vielen Zugfahrten nach Krakau erzählen oder wie man es für kleines Geld nach Istanbul schafft, wenn man alle Grenzen zu Fuß überquert. Von Kiew, Belgrad, Sofia, Minsk, von Zügen, die man zwei Meter in die Luft hebt, um sie an das Schienensystem in einem anderen Land anzupassen. Philosophieren könnte ich über die Vorder- und Rückseite von Bahnhöfen, die geschminkte und ungeschminkte Seite einer Stadt – wäre nur ein Artikel in der goodtimes so lang wie eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn. 

Etwa eine Woche braucht der Linienzug (aus der Zeitung weiß ich, es verkehren inzwischen Luxuszüge für Touristen, mit Duschen und Unterhaltungsprogramm) für die über 9200 Kilometer von Moskau nach Wladiwostok. Stunde für Stunde, Zeitzone für Zeitzone erklären sich geduldig Größe, Weite und Entfernung ganz von selbst, vorbei an wechselnden Landschaften, hinweg über beeindruckende Flussläufe. Man kann sehr lange aus dem Fenster sehen, Gedanken sich endlos um sich selbst drehen lassen, sich ein wenig in Melancholie verlieren. Nichts eilt, nichts passiert bald, man muss und kann nirgendwo hin. Alles darf dauern. 

Das Abteil – zwei Betten oben, zwei Betten unten, in der Mitte ein Tisch – teilt man sich (je nach Reisezielen) für einige Tage mit Menschen, die man höflich begrüßt und zum Abschied herzlich umarmt. Neugier, Langeweile und die Erfordernisse des Zusammenlebens auf engstem Raum brechen immer das Schweigen. An den Bahnhöfen ist meist etwas Zeit auszusteigen. Männer mit schweren Hämmern laufen am Zug entlang. Ortsansässige verkaufen auf dem Bahnsteig, was in ihren Gärten gewachsen ist, was sie in ihren Küchen gekocht und in ihren Flüssen gefangen haben. Abends gibt es im Abteil getrockneten Fisch, es gibt Kartoffeln, frische Gurken und Tomaten. Maksime – vom oberen Bett gegenüberer – schenkt ein, wir trinken auf die Freundschaft. 

Zwischen Moskau und Irkutsk ist alles wichtig. Nichts wird mit einer Handbewegung abgetan, nichts ist zu kompliziert. Ich schlage die Wörter nach, die ich nicht kenne. Maksime zeichnet für mich: eine selbstgebaute Anlage seines Großvaters zur Herstellung von Wodka; eine Karte von einer Bucht am Baikalsee, wo er mit seiner Frau nach der Hochzeit wunderschöne Tage und Nächte verbracht hat; den Schienenstoß – wo ein Schienenanfang und Schienenende zusammenkommen, mit einer kleinen Lücke dazwischen, damit das Material bei wechselnden Temperaturen arbeiten kann. Hier entsteht im Rhythmus der Geschwindigkeit Schienenstoß für Schienenstoß, Waggon für Waggon, das schlagende, nachhallende Dumdum Dumdum – seit Moskau ununterbrochen, monoton, beruhigend. „Stimmt es wirklich“, fragt Maksime als er fertig ist, „dass die Züge bei Euch 300 km/h fahren, in Eurem kleinen Land?“ Ich nicke. Er will wissen, wie sich das anhört. 

Am Bahnhof von Irkutsk löst sich unsere Wohngemeinschaft auf. Auf dem Weg nach Wladiwostok – aber erst einige Wochen später – bildet sich eine neue, mit jungen Soldaten, die sehr gut Schach spielen. Auf der Strecke von Wladiwostok nach Harbin aufgeregte Studentinnen, sie werden zwei Semester in China bleiben.

Ich mag Langsamkeit und Langeweile. Sie machen Platz für Gespräche, geben dem Detail Bedeutung, den Gedanken Raum, sich zu entfalten. Man kann komfortabler Reisen, schneller natürlich, als in osteuropäischen Zügen. Aber diese Berührungen mit dem Hier und Jetzt, für ein paar Stunden oder Tage, sind meist ehrlich und intensiv. So unterwegs ist man dem Land und sich selbst näher als bei einem Spaziergang über den Roten Platz oder beim Besichtigen von Dingen, die als Geheimtipp in millionenfach gedruckten Reiseführern stehen. 

Und dennoch gibt es unzweifelhaft auf den über 9200 Kilometern viele gute Gründe immer wieder auszusteigen, zu bleiben, am besten so lange, bis man sich fast ein wenig langweilt. Man kann die malerischen 86 Kilometer von Port Baikal nach Sljudjanka laufen, auf der alten Trasse der Transsibirischen Eisenbahn, oder wandern auf einsamen Bergen an den Ufern des Baikalsees. Aber das sind andere, eigene Geschichten.                  

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert